Eigentlich kann ich mich nicht mehr so genau an alle meine ehemaligen Dirigenten bzw. Orchesterleiter erinnern. Es gab halt geniale und eher rustikalere. Dafür kann ich mich aber daran erinnern, was man so alltäglich in den letzten Jahren an den Dirigentenpulten, in Orchesterproben, bei Konzerten, Wettbewerben oder sonstigen Veranstaltungen sieht oder gesehen hat. Die Unterschiede wie mit Orchestern oder Gruppen gearbeitet wird/wurde und sie geführt werden/wurden ist unheimlich groß. Aus dieser Situation heraus habe ich mir einige Gedanken zum Thema: „Dirigent/Orchesterleiter“ in Spielleutegruppen gemacht. Die Besetzungsform der Gruppe (Ces/ Fes, C/ G usw.) ist dabei völlig uninteressant. Es soll hier auch nicht um die Inhalte von Aufbau und Durchführung einer Orchesterprobe gehen. Was also unterscheidet nun wirklich Dirigenten von Dirig(- Enten)?
Musikalische Fertigkeiten und Kenntnisse
Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass musikalische Fertigkeiten und Kenntnisse für den Leiter einer Spielleutegruppe von größter Wichtigkeit und selbstverständlich sind. Ist das aber wirklich immer so? An diesem Punkt zeigt sich sehr schnell, ob der Orchesterleiter (Dirigent/musikalischer Leiter) eine sehr gute musikalische Ausbildung genossen hat oder eher nichts davon hat und einfach nur aus Bequemlichkeit nach „vorne“ gestellt wurde. Besonders im Laien- bzw. im Hobbybereich muss ein Orchesterleiter/Dirigent etc. agogische Dinge, stilistische Dinge, rhythmisch schwierige Dinge und Passagen erklären und vermitteln können. „Sie“ oder „Er“ muss in der Lage sein, dem Orchester und seinen Musikern – mit geeigneten Maßnahmen und Methoden – bestimmte Dinge so zu vermitteln, dass das Orchester und seine Musiker diese auch korrekt spielen, einhalten, umsetzen oder wiedergeben. Allerdings muss ich jetzt zugeben, dass ich Dirigenten und Dirigentinnen erlebt habe, die durch ihre eigenen Orchestermusiker auf rhythmische oder stilistische Fehler aufmerksam gemacht wurden. „Sie“ bzw. „Er“ war nicht in der Lage zu erklären, wie eine Passage richtig gespielt werden muss bzw. sollte. Gemeinhin besteht Musik nicht nur aus Tönen, Tondauer und Notenwerten. Nicht nur aus Melodie, Harmonie und Rhythmus. Zur Musik und deren Interpretation gehört auch alles das, was über oder unter den Liniensystemen steht und oftmals auch das, was erst gar nicht auf dem Notenblatt steht (z. B. Stilistik, Atmungsbögen/ Phrasierungen etc.). Gerade letztere Dinge machen aber Musik erst interessant. Der Kampf eines Orchesterleiters/Dirigenten um Einhaltung von Dynamik, Darstellung von Akzenten ist oftmals ein unendlicher. Ein aussichtsloser Kampf ist der, dass Musiker nach „vorne“ zu ihrem Orchesterleiter/Dirigenten schauen. Man kann es aber erreichen, wenn man als Orchesterleiter/Dirigent weiß, wie ich pädagogisch oder psychologisch meine Musiker dorthin bringen kann und will. Setzt aber voraus, dass ich nicht nur musikalisch versiert bin, sondern Themen wie Probenmethodik, Probendidaktik usw. beherrsche. Leider erlebt man dennoch allzu oft, dass sich Orchesterleiter/Dirigenten in Spielleutegruppen der Masse geschlagen geben. Ok! Dann ist es halt so, dass die Lautstärke bzw. Dynamik vom Anfang eines Stückes bis zu seinem Ende gleichbleibend ist, interessante Effekte und Akzente für Zuhörer/Zuseher verborgen bleiben und alle auf ein Wohlfühlempfinden verzichten müssen.
Die Motivation und Begeisterung
Ein Orchesterleiter/Dirigent benötigt ständig ein hohes Maß an Eigenmotivation. Sein Engagement muss ständig hoch sein. Eigentlich kann „Sie“ oder „Er“ nur so das Orchester zu guten Leistungen, guter Musik und zu einer guten Entwicklung verhelfen und erziehen. Spürt das Orchester, dass „Sie“ oder „Er“ keine rechte Lust auf die Probe hat, auf die Arbeit mit dem Orchester hat oder Äußerungen macht, er habe keine Lust mehr und würde sein Amt lieber jetzt als später aufge-ben, dann kann dieser Orchesterleiter/Dirigent keine große Gegenliebe mehr erfahren. Die Musiker nehmen dann in Kauf, dass Orchesterproben nicht mehr pünktlich beginnen, das Pausen immer länger und länger werden, das Proben nicht mehr planvoll ablaufen, diese Proben inhaltlich total verkommen und das Orchester – insgesamt – den Bach runtergeht. Jeder kann sich dieses Szenario und weitere Folgen und Konsequenzen selber ausmalen. Lust, Freude, Engagement und viele Dinge mehr müssen vom Dirigentenplatz, Dirigentenpult oder besser einfach von „vorne“ kommen! Wie heißt es da immer so schön: „So wie es in den Wald hineingerufen wird, so kommt es auch wieder heraus!“ Es gibt Orchesterleiter/Dirigenten, denen man bei einem Auftritt ansieht, dass ihnen ihre Aufgabe — ihr Job und die damit verbundene Aufgabe – Spaß macht. Sie freuen sich über den Applaus, die Wertschätzung durch das Publikum und teilen dabei ihre Freude und ihren Spaß mit dem Orchester und geben diese Freude und diesen Spaß direkt ans Orchester weiter. Wohlwissend, dass beide Seiten eine tolle Leistung gezeigt und gemeinsam einen tollen Job gemacht haben. Lob, Anerkennung und Wertschätzung sind auch hier unabdingbar – für beide Seiten. Die Ausstrahlung muss eine besondere sein, darf aber im Rahmen der Motivation nicht nur von kurzer Dauer sein. Irgendwann mag man bestimmte Motivationssprüche oder -gesten als Musiker nicht mehr.
Ach ja … und das Fingerspitzengefühl?
Auch hier erlebt man oft haarsträubende Situationen oder Momentaufnahmen. Da gibt es tatsächlich Situationen und Momente, wo ein Dirigent/Orchesterleiter einen seiner Orchestermusiker runterputzt, weil „Er“ oder „Sie“ einfach nur falsch gespielt hat und Rhythmen nicht erkannt hat bzw. sie nicht kannte. In anderen Fällen und die sind jetzt nicht einfach von mir für diesen Bericht konstruiert, wird ein Musiker oder eine Musikerin vor dem versammelten Orchester die Frage gestellt, ob „Er“ oder „Sie“ ihr D- bzw. C-Leistungsabzeichen auf dem üblichem, also legalem Wege erworben hat. Vielleicht sogar im Lotto gewonnen hat. Dazu kommt und das wird sehr oft unterschätzt, ein guter Dirigent bzw. Orchesterleiter tut immer gut daran, gegenüber seinem Orchester auf „Männersprüche“, „Anglizismen“ oder irgendwelche selbstherrlichen Sprüche zu verzichten. Scheint alles klar zu sein … wird es aber immer berücksichtigt? Ein Dirigent/Orchesterleiter muss mit Menschen umgehen können, sie so akzeptieren wie sie sind und auch auf sie zugehen können. „Sie“ oder „Er“ muss einfach das Feingefühl haben zu wissen oder zu spüren, wie „meine“ Orchestermusiker „ticken“ oder „gestrickt“ sind. Es muss klar sein, wie spreche ich das Orchester an? Wie hart oder weich müssen die Ansagen sein? Benötige ich bei einigen Musikern eine harte Ansprache oder gibt es Musiker, die mit Samthandschuhen angefasst werden müssen. Gleichzeitig muss einem Dirigenten/Orchesterleiter klar sein, warum die vielen Leute jede Woche vor „Ihr“ oder „Ihm“ sitzen! Dazu kommt eigentlich der gesunde Menschenverstand gerade in Bezug auf ein menschliches Miteinander. Dann verkneift man sich rasch die Frage danach, wie ein Musiker an sein Leistungsabzeichen gekommen ist. Allein einem Orchester ständig vorzuhalten wie schlecht es doch ist oder wie schlecht es ausgebildet ist, wirkt da auch nicht zielführend und zielt auf kein positives miteinander ab. Ein Dirigent der ellenlange Monologe und Erklärungen abhält (oder benötigt) ist nicht immer von Vorteil und eigentlich auch nicht akzeptabel. Ein gesundes Selbstbewusstsein aber wünschenswert.
Und am Ende?
Wer einen guten Orchesterleiter/Dirigenten hat, sollte sich glücklich wähnen und glücklich schätzen. Ich schreibe das auch deshalb, weil gerade in unserer heutigen Zeit viele Blender unterwegs sind und viele Vereine bzw. Gruppen das nicht erkennen. In allen anderen Situationen kann es sicher nicht unbedingt verkehrt sein, wenn sich die entscheidenden Organe eines Orchesters (Vorstand etc.) darüber Gedanken machen, wie und mit welcher musikalischen Führung ein Orches¬ter in die Zukunft gehen möchte, welche Ziele und Visionen angestrebt werden. Dazu sich die Frage stellen, ob durch einen Dirigentenwechsel auch Arbeitsbedingungen, Arbeitsergebnisse und das gemeinsame Miteinander verbessert werden kann. Aber Achtung! Einen Dirigenten auszutauschen nur weil man – als Verein – dem Mainstream folgen will, wäre nicht klug. Divenhaftigkeit ist ebenfalls nicht zielführend und kann eigentlich – im Umgang mit dem Orchester – nicht toleriert werden. Ein Orchester zu leiten und mit Menschen zu arbeiten, sie anzuleiten, ist eine wunderbare Arbeit. Sie kann auch sehr schnell ermüdend und erdrückend sein. Leicht ist sie nicht. Deshalb … „Hut ab“ vor jedem, der dieser Aufgabe mit all seinen schönen und negativen Seiten nachgeht.
Quelle: Fachbericht in der Zeitschrift Crescendo im Januar 2013